Evakuierungen von Außenlagern des KZ Dachau:
Kaufering, Mühldorf, Allach, München-Ost

Wir sprechen in dieser Informationsdatei vom "KZ-Komplex Dachau", weil die SS vom ersten "Schutzhaftlager" am Rande der Stadt Dachau ausgehend in den folgenden Jahren etwa 150 "Außenlager" errichtete, verwaltete, kontrollierte und ausbeutete. Der Einzugsbereich des KZ Dachau reichte weit über Oberbayern hinaus - von Mittelfranken bis Tirol und von Schwaben bis Kärnten. Während das Zentrallager in Dachau von Anfang an und auch später hauptsächlich der Unterdrückung von Regimegegnern diente, wurden die Außenlager primär für die wirtschaftliche Ausbeutung von Häftlingen geschaffen. Sie lagen meist in der Nähe von Industriestandorten oder Produktionsstätten, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten.

Wegen des kriegsbedingten Arbeitskräftemangels in Deutschland war es mehr als wahrscheinlich, dass die SS-Führung und der Rüstungsapparat dieses letzte Arbeitskräfte-Reservoir, das zum großen Teil erst im Jahre 1944 aus osteuropäischen Arbeitslagern in den Lagerkomplex Dachau verlegt worden war, für ihre Rüstungspläne in der "Alpenfestung" nutzen wollten. Deshalb wurden etwa 25 000 Häftlinge aus dem KZ Dachau und seinen Außenlagern durch Märsche oder per Bahn in Richtung Alpen getrieben bzw. transportiert. Zahlenmäßig sind vor allem die elf Arbeitslager des KZ-Kommandos Kaufering und die vier Arbeitslager des KZ-Komplexes Mühldorf zu nennen, auch die kleineren Außenlager im Großraum München (München-Allach, München-Giesing, München-Riem und Ottobrunn), in denen vorwiegend für die Rüstungsproduktion besonders wichtige Facharbeiter beschäftigt wurden.

Eine der beiden Primärquellen über die Dachauer Todesmärsche, der "Niederländische Suchdienst", gibt in seinem im Jahre 1950 veröffentlichten Dokument "Evacuation of the C.C. Dachau and of the Kdo,s Kaufering, Tuerkheim and Muehldorf" für den Lagerkomplex Kaufering, in dem am 14. April 1945 noch rund 12000 Häftlinge gezählt wurden, nur folgende Häftlingszahlen von Evakuierungsmärschen und Bahntransporten an.

  • Türkheim (Kaufering 6): 1 200 Häftlinge
  • Landsberg (Kaufering 1): 1 500 Häftlinge
  • Bedenkt man, dass außer diesen 2700 Häftlingen rund 3500 Häftlinge aus den Lagern Kaufering 1 und Kaufering 4 durch einen Bahntransport nach Dachau evakuiert wurden, dann bleibt im niederländischen Dokument noch ein unerklärtes Defizit von fast 6000 Häftlingen, fast der Hälfte der gesamten Häftlingsstärke des Komplexes Kaufering, fast so viele Häftlinge wie auf dem "Todesmarsch von Dachau".

    Diese offiziellen Zahlen sind angesichts der noch am 14. April 1945 von den Lagerverwaltungen registrierten Häftlingszahlen völlig unrealistisch. Nicht nur die aritmetrische Differenz, auch die Aussagen von Zeitzeugen im Rahmen des "Dachau-Prozesses" (ehemalige Häftlinge und Wachpersonal der SS) lassen auf eine doppelte "Sollstärke" von Teilnehmern an Evakuierungsmärschen und Bahntransporten aus dem KZ-Komplex Kaufering schließen. Dies geht aus folgender Aufstellung deutlich hervor:

                           Lagerstärke   Häftlings-   Bahntrans-        Gesamte
                                            märsche        porte    Evakuierung
    
  • Kaufering/Landsberg 12 000 2 700 3 500 6 200
  • Mühldorf Ampfing 5 200 - 3 600 3 600
  • Dachau 30 000 7 000 11 300 18 300
  • München-Allach 10 000 2 000 - 2 000
  • München-Ost/Ottobrunn 2 500 2 500 - 2 500 ___________________________________________________________________________ (59 700) 14 700 18 400 32 600
  • Diese Aufstellung soll nur Größenordnungen liefern. Sie ist aus folgenden Gründen mit Ungenauigkeiten oder gar Unkenntnis behaftet:

    • Die Zahl der Häftlinge im Hauptlager Dachau und im benachbarten KZ Allach stieg in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 gewaltig an. Häftlingszahlen von Evakuierungszügen aus den KZ-Lagern Buchenwald, Flossenbürg, Natzweiler wurden teilweise gar nicht mehr registriert. Der letzte Häftlingszug wurde nach einer schrecklichen, fast vier Wochen dauernden Fahrt von Buchenwald über Flossenbürg und Passau bis Dachau nicht mehr geöffnet, geschweige denn entladen und registriert. Das KZ-Dachau war am 29. April 1945, dem Tag der Befreiung, völlig überfüllt. So ist es nicht möglich festzustellen, woher die 1524 jüdischen Häftlinge kamen, die am 26. April 1945 zum "Todesmarsch von Dachau" aufbrechen mussten. Ähnliche Verhältnisse herrschten im nahe gelegenen KZ-Lager Allach.
    • Die Angaben über die Evakuierungsmärsche und -transporte aus den elf Lagern des Komplexes Kaufering sind äußerst lückenhaft (zwei Märsche, ein Bahntransport). Die Ungenauigkeit beginnt bereits bei der Nummerierung der elf Lager, die von offiziellen Stellen und auch von einzelnen Zeitzeugen durcheinander gebracht werden.
    • Die Herkunft der Häftlinge der vier "Dachauer Züge" in Richtung Alpen ist nicht klar. Da der Dachauer Bahnhof und die Bahnstrecke nach München durch Bombardierung und Tieffliegerbeschuss ausgefallen waren, mussten Häftlinge aus Dachau bis Emmering, kurz vor Fürstenfeldbruck, marschieren und wurden dort verladen. Es kann sich bei diesen Bahntransporten um Häftlinge aus den genannten Evakuierungstransporten aus anderen KZ-Lagern handeln. Es ist auch möglich, dass ein Teil der Häftlinge aus den Kauferinger Lagern, die auf dem Marsch nach Dachau und Allach Emmering passieren mussten, dort in Güterzüge in Richtung Süden verladen wurden.
    • Die ursprünglich von der SS geplante Marsch- und Zielrichtung der Evakuierungsmärsche und -züge und die strenge, mit Gewalt durchgesetzte Ordnung wurde in den letzten Kriegstagen durch die militärische Lage durchkreuzt, hauptsächlich durch die Bombardierung und Beschießung durch die US-Luftwaffe von Eisenbahnstrecken und auch von Straßen, sowie durch das beginnende Chaos des Rückzugs der deutschen Truppen. Dies hatte zur Folge, daß sich die "Marschsäulen" des historischen "Todesmarsches von Dachau" schon von der ersten Etappe an (Dachau-Leutstetten) mit Häftlingsgruppen aus Außenlagern (Türkheim, Allach) vermischten. Im Raum Wolfratshausen (Eurasburg, Beuerberg) und dann im Raum Bad Tölz verstärkte sich die unübersehbare und nicht mehr rekonstruierbare Vermischung der Marschgruppen aus den Herkunftsorten Türkheim, Utting, Kaufering, Landsberg, Dachau, Allach und aus dem Osten Münchens.

    So ist es z.B. nach dem heutigen Forschungsstand nicht möglich, die Herkunft der 3 000 Häftlinge festzustellen, die nach offiziellen amerikanischen Quellen um den 2. Mai 1945 im Raum Tegernsee befreit wurden: in Dürnbach, Gmund, Wiessee, Rottach oder Wildbad Kreuth. Gehörten sie - sozusagen als "Vorhut" - dem "Todesmarsch von Dachau" vom 26. April 1945 an, oder den Häftlingstransporten aus Allach und Kaufering/Landsberg oder aber den drei Häftlingszügen aus den Außenlagern östlich von München, die am frühesten abmarschierten und wohl auch am weitesten in Richtung Alpen vorankamen?

    Dieser quellenkritische Hinweis soll Lesern, die unterschiedliche Quellen benützen, helfen, dass sie bei unvereinbaren Angaben über Orte, Zahlen und Zeiten nicht an ihrer eigenen Auffassungsgabe zweifeln. Wegen des Chaos auf Straßen und Bahnlinien kurz vor Eintreffen der US-Truppen, wegen vieler Märsche bei Nacht und im Hinblick auf die Auflösungserscheinungen im Befehls- und Kontrollapparat von SS und Wehrmacht wäre es völlig unrealistisch, klare geographische, zeitliche und quantitative Daten zu erwarten. Wir gehen auf diese Unklarheiten und Widersprüche im Kapitel und dem Stichwort ausführlicher ein.

    Diese Wissenslücken spielen für eine historische Einordnung der "Evakuierungszüge" aus den Lagern des KZ-Komplexes Dachau in Richtung Alpen keine wesentliche Rolle. Entscheidend ist die ausführlich belegte Tatsache, dass aus diesen KZ-Lagern in der völligen Sinnlosigkeit der letzten Kriegstage geschundene, kranke, halbverhungerte und verdurstende Menschen vom Terrorapparat der SS gnadenlos und mit todbringender Gewalt durch Kälte, Regen und schließlich auch Schnee vorwärtsgetrieben wurden. Vorwärts? Vorwärts wohin? Für Viele führte dieser ziel- und zwecklose Zug in den Tod, in einen Tod durch Erschöpfung, Hunger, Krankheit, Erschießung oder Erschlagung. Tod durch Marschieren! Deshalb gingen diese "Evakuierungszüge" mit Recht unter dem Begriff "Todesmarsch von Dachau" in die Geschichte ein.