Informationslücken bei der Evakuierung von Außenlagern Allach und München-Ost

1. Der Marsch vom KZ Allach

Die Lagerschreibstube des KZ Dachau registrierte in ihrer letzten Aufstellung "Außenkommandos" vom 26.4.45 im " Akdo Allach" 9997 Häftlinge. Es soll zu Beginn dieses Kapitels gesagt werden, dass es keinen Befehl gab, alle Häftlinge des KZ Allach zu evakuieren, so wie dies im Außenkommando Kaufering und weitgehend auch im Außenkommando Mühldorf der Fall war. Um die Frage von Häftlingsmärschen vom KZ Allach zu klären, muss zunächst festgestellt werden, dass Allach kein politisches Konzentrationslager war wie Dachau, sondern primär ein Zwangsarbeitslager für große metallverarbeitende Rüstungsfabriken wie BMW, Krauss-Maffei und MAN. Die Allacher KZ-Häftlinge waren vorwiegend nicht osteuropäische Bauhilfsarbeiter wie die Häftlinge aus Landsberg/Kaufering, sondern vorwiegend westeuropäische Metallfacharbeiter. Es gibt keine Hinweise, dass sie in ein "Akdo Ötztal" abkommandiert werden sollten.

Mehrere Quellen weisen darauf hin, dass das KZ Allach in den letzten Kriegstagen, als das KZ Dachau schon überfüllt war, auch als Auffanglager für Evakuierungstransporte aus den KZ-Lagern Buchenwald, Flossenbürg und Natzweiler benützt wurde, auch – wie wir schon festgestellt haben – für Häftlinge aus dem Lagerkomplex Kaufering. Wir gehen deshalb davon aus, dass es sich beim Allacher Marsch nicht um einen "Evakuierungsmarsch" aller dortigen Häftlinge handelte, sondern vor allem um eine Weiterleitung von Häftlingen aus anderen Lagern.

Wir untersuchen die Existenz des Häftlingsmarsches von Allach, die Zahl der in Allach in Marsch gesetzten Häftlinge, ihre Herkunft und ihr Ziel.

a. Gab es einen "Todesmarsch von Allach"?

Wir können vier Arten von Quellen benennen, die einen Häftlingsmarsch vom KZ Allach in Richtung Süden bezeugen: SS-Angehörige, Häftlinge aus dem KZ Allach, Häftlinge aus dem KZ Dachau, Häftlinge aus Kauferinger Lagern.

  • SS-Angehörige: Andreas Wagner nennt in seiner Schrift Todesmarsch drei SS-Angehörige, die mit unterschiedlichen Zahlenangaben einen Allacher Marsch bezeugen: Erich Lippert mit 500 Häftlingen, Kurt Pröhl mit 700 bis 800 und Michael Maubach mit 2000 Häftlingen. Pröhl gibt auch einen wichtigen Hinweis auf den Abmarsch des Allacher Zuges: 26.4.45 18.00 Uhr, also drei Stunden vor dem Dachauer Zug. Auch Häftlinge bestätigen diesen früheren Abmarsch. Damit ist erwiesen, dass es neben dem "Todesmarsch von Dachau" einen getrennten "Todesmarsch von Allach" gab.
  • Allacher Häftlinge: Der Allacher Häftling Rupert Schmidt dokumentiert in seinem Bericht "Gewaltmarsch" vom 19.5.45 den Abmarsch von Allach "am 26. nachmittags". Er berichtet von der ersten Rast in einem "dichten Wald", "eine Anhöhe hinauf" (Leutstetten) und: "…da hörte ich wie ein Häftling sagte: "Die Dachauer kommen!"
  • Dachauer Häftlinge: Leopold Malina schreibt in seinem Bericht "Notizen der letzten Tage im Konzentrationslager Dachau": "Königswieser Forst. In einem Seitental hielten wir eine größere Rast … Hier trafen wir die Leute von Allach, die selbständig gingen und eine eigene Bewachung hatten." – Heinrich Pakullis schreibt in seinem Bericht "Verschleppungs-Todesmarsch nach Tirol: "Bis 9 Uhr morgens haben wir 42 Kilometer zurückgelegt und lagern auf einer Wiese. Ein paar Hundert Häftlinge aus Allach schließen sich uns an." – Franz Scherz schreibt in seinem Bericht "Sieben Tage, Bericht über den Todesmarsch der Dachauer Häftlinge, vom 26. April – 2. Mai 1945": "Gegen 11 Uhr vorm kamen wir in eine Waldschlucht, möglicherweise die Würmschlucht. … sahen wir, dass es auf den Hängen nur so wimmelte von Menschen, Häftlingen, die schon vor uns eingetroffen waren und vermutlich aus den Rüstungsbetrieben Allach u.a. stammten."
  • Kauferinger Häftlinge: Abraham Schul, Häftling in Lager 11 des Kauferinger Komplexes, hat uns mitgeteilt, dass er am 24.4.45. von Landsberg nach Allach marschieren, dort übernachten und am 26.4.45 in Richtung Süden weiter marschieren musste. Die ehemaligen Häftlinge Liebermann und Rom, die ebenfalls im Lager 11 waren und die wir schon erwähnt haben, blieben in Allach.

b. Herkunft der Häftlinge des Allacher Marsches

Für den Allacher Marsch können wir nicht so viele Zeitzeugen mobilisieren wie für die Dachauer und Kauferinger Märsche. Doch was die Herkunft der Häftlinge des Allacher Marsches anbetrifft, so können wir mit Hilfe von zwei schon zitierten Häftlingen belegen, dass Allacher Häftlinge und Kauferinger Häftlinge an diesem Marsch teilnahmen:

  • Der Allacher Häftling Rupert Schmidt beginnt seinen Bericht "Der Gewaltmarsch" vom 19.5.45 mit den Worten: "Am 25.4.45 ging der Befehl durch das Lager Allach. Bereit halten und angezogen schlafen! … Am 26. nachmittags hieß es mit einer Decke antreten. Die Deutschen und Russen wurden dreimal gezählt und aufgerufen. … Wir marschierten zum Tor hinaus, während die anderen Nationen auf ihre Blöcke zurück gehen mussten." Diesem Text ist zu entnehmen, dass nur deutsche und russische Häftlinge aus dem KZ Allach an diesem Marsch teilnehmen mussten.
  • Der zuletzt erwähnte Kauferinger Häftling Abraham Schul bezeugt – wie oben schon erwähnt –, dass er nach seiner Ankunft in Allach an einem Marsch nach Süden (Buchberg) teilnahm. Die Tatsache, dass seine Kameraden Jakob Liebermann und Karl Rom – beide ebenfalls von Lager 11 – nach deren Auskunft nicht am Marsch nach Süden teilnehmen mussten, lässt den Schluss zu, dass die Kauferinger nicht gezwungen waren, weiter zu marschieren, und dass nicht alle 2600 Häftlinge des Marsches von Landsberg/Kaufering nach Allach (Lager 3 und 11) nach Süden weitermarschieren mussten.

c. Zahl der Häftlinge

Wir erinnern daran, dass drei SS-Angehörige drei unterschiedliche Häftlingszahlen für den Marsch aus dem KZ Allach angeben: 500, 800 und 2000. Bedenkt man, dass Allacher Häftlinge am Marsch teilnehmen mussten und dass wahrscheinlich ein großer Teil der 2600 Kauferinger Häftlinge, die von Lager 3 und 11 nach Allach marschierten, am Allacher Marsch teilnahm, dann halten wir eine gesamte Häftlingszahl von 2000 für wahrscheinlicher als nur 500 oder 800.

d. Ziele des Allacher Marsches

Auch hinsichtlich der Ziele des Allacher Marsches stützen wir uns auf zwei schon genannte Häftlinge aus Allach und Kaufering:

  • Der Allacher Häftling Rupert Schmidt musste über dieselbe Route wie der Dachauer und der letzte Kauferinger Evakuierungszug – also über Würmtal, Starnberger See, Wolfratshausen und Bad Tölz - bis Waakirchen marschieren und wurde dort befreit.
  • Der Kauferinger Häftling Abraham Schul nahm am Allacher Marsch bis Wolfratshausen teil und wurde von dort in das nahe gelegene Gefangenenlager Buchberg – zwischen Wolfratshausen und Geretsried gelegen – gebracht (27.4.) und dort am 30.4. befreit.

Aufgrund dieser Informationen ist also davon auszugehen, dass ab dem Rastplatz Leutstetten/Petersbrunn neben den 7000 "Dachauern" und den 1200 "Türkheimer Häftlingen" zusätzlich bis zu 2000 Allacher Häftlinge, also insgesamt über 10.000 Häftlinge in Richtung Wolfratshausen weitermarschierten. Ein unbekannter Teil der "Allacher" kann ab Wolfratshausen wieder aus der Betrachtung des "Todesmarsches von Dachau" herausgenommen werden, weil sie von Wolfratshausen aus ins Gefangenenlager Buchberg (Geretsried) marschierten und dort befreit wurden. Ein uns ebenfalls nicht bekannter Teil der aus dem KZ Allach kommenden Häftlinge marschierte jedoch mit den "Dachauern" bis Waakirchen.

Die spärlichen Zeugenberichte erlauben leider keine quantitativen Angaben über die Zahl von Kauferinger Häftlingen, die von Allach aus mit dem dortigen Häftlingszug mitmarschierten, und auch nicht die Anteile des Allacher Zuges, die nach Buchberg bzw. Waakirchen marschieren mussten. Wir halten es für möglich, dass "reichsdeutsche" Häftlinge bis Waakirchen marschieren mussten, osteuropäische Häftlinge nach Buchberg, das bereits ein Kriegsgefangenenlager für russische Häftlinge war. Diese Überlegung lässt die Frage nach jüdischen Häftlingen des Allacher Marsches offen.

Nach den drei Kapiteln über die Dachauer, Kauferinger und Allacher Evakuierungsmärsche ist immerhin klar ersichtlich, dass Häftlinge aus allen drei KZ-Lagern bis Waakirchen, dem Ort der Befreiung, marschieren mussten. Keiner von ihnen berichtet über einen Weitermarsch ins Tegernseer Tal.

2. Evakuierungsmärsche von KZ-Lagern im Münchner Osten

In den letzten Kriegstagen wurden auch drei Zwangsarbeitslager im Osten Münchens geräumt, deren Evakuierung in den Hauptquellen –wie der Allacher Marsch – überhaupt nicht erwähnt sind:

  • das Außenkommando München-Riem mit 1543 Häftlingen,
  • das Außenkommando "Agfa Kamerawerk" in München Giesing mit 539 Häftlingen,
  • das Außenkommando "Luftfahrtforschungsanstalt" in Ottobrunn 337 Häftlingen.

Diese kleinen Lager mit insgesamt nur 2400 Häftlingen sind ebenso wie die rund 2000 Allacher quantitativ nicht so auffallend wie die 7000 Dachauer und die 12 000 Kauferinger Häftlinge. Aber in unserer Gesamtbetrachtung über die "Todesmärsche von Dachau" sind sie besonders interessant und wichtig, weil sie – nach den Hauptquellen - dasselbe Ziel wie der bekannte Dachauer Marsch hatten und deshalb Fragen über die Schlussphase aufwerfen und auch beantworten können.

Andreas Wagner hat dieses vergessene Kapitel der Dachauer Todesmarsch-Literatur in seiner Studie aufgeworfen und so weit die Quellen reichten auch untersucht - bis auf die Schlussfrage, die wir stellen.

a. Russen von Riem

Die Räumung des Außenkommandos Riem mit 1543 Häftlingen begann am 25 April 1945. Spärlich sind die vorhandenen Informationen über die Marschrouten und von angeblich zwei Kolonnen zu je 500 Häftlingen. Die eine soll über München-Trudering nach Bad-Tölz geführt haben, die zweite über München, Großhesselohe, Grünwald, Deining nach Dettenhausen. Diese Angaben sind sehr unklar und irreführend. Zum einen führt der direkte Weg von München-Riem bzw. München-Trudering nach Bad Tölz über Grünwald und Deining, dann weiter über Egling, Ascholding, Bairawies – und Kirchbichl - nach Bad Tölz. Zum anderen ist es nicht glaubhaft, dass ein Parallelmarsch – auf derselben Strecke – in Dettenhausen, nur zwölf Kilometer von Grünwald entfernt, in einem kleinen Dorf hängen blieb. Der Ortspfarrer von Dettenhausen berichtete nicht über die Befreiung von 500 Häftlingen am 26. oder 27.4.45 in seinem kleinen Dorf. Wie könnte er: die US-Truppen erreichten Dachau und München erst am 29.4.45. Man darf realistischerweise annehmen, dass mögliche Teilzüge von Häftlingen aus Riem (wo blieben weitere 500 von 1500 Häftlingenß) auf derselben Strecke wie der erste Zug Isar aufwärts in Richtung Bad Tölz marschierte.

Über einen Häftlingsmarsch durch Grünwald gibt es Fotos, die ziemlich kräftige Männer zeigen, und dazu konkrete Augenzeugenberichte. Es handelte sich offensichtlich um russische Zwangsarbeiter aus Riem, nicht um ausgemergelte und geschundene jüdische Häftlinge. Bei einer Ausstellung im Tel Aviver Haaretz-Museum anlässlich des 50. Jahrestags der Befreiung sagte Chaim Konwitz, Überlebender der Todesmärsche von Kaufering nach Dachau und von Dachau nach Waakirchen, zu seinen Enkeln in Gegenwart dieses Autors: "Das sind nicht wir. Das sind Russen. Die sind noch wohlgenährt." Die Häftlinge der Märsche durch Grünwald, die dort fotografiert wurden, waren offensichtlich nicht die Häftlinge von Agfa und Ottobrunn.

Die Marschstrecke der Riemer Häftlinge entlang der Isar ist durch Tote markiert: in Egling, Unterleiten, Hechenberg - und in Kirchbichl und Ellbach.

In den Berichten über den Evakuierungsmarsch aus München-Riem ist über sein mögliches Ziel oder Ende nur noch bekannt, dass eine große Gruppe von Häftlingen ("Tausende") am 30. April bei Ellbach den Raum Bad Tölz erreichte. Und dann? Bad Tölz wurde erst zwei Tage später, am 2. Mai, von US-Truppen erobert. Was geschah in den folgenden zwei Tagen mit diesem Marsch? Wo blieben die Häftlinge von München-Riem?

b. Frauen aus Giesing

Beim zweiten Evakuierungsmarsch handelte es sich um 539 Frauen, die seit Herbst 1944 im Agfa Kamerawerk in München-Giesing beschäftigt waren. Es handelte sich um 200 Niederländerinnen, 200 Polinnen und 100 Frauen aus Belgien, Jugoslawien und der Ukraine, die feinmechanische Tätigkeiten ausführen mussten, also nicht die üblichen Schwerstarbeiten von Häftlingen. Sie marschierten über Grünwald bis Deining, dann aber nicht mehr weiter in Richtung Bad Tölz, sondern nach Westen, nach Wolfratshausen. Dort wurden sie befreit. Für unsere Untersuchung spielen sie keine Rolle.

c. Flugforscher aus Ottobrunn

In der Luftfahrt-Forschungsanstalt Ottobrunn arbeiteten 337 Häftlinge. Das Datum und das Ziel ihrer Evakuierung sind nicht bekannt. Der Grund für ihre Evakuierung könnte in ihrer Tätigkeit gelegen haben. Die Nazi-Führung wollte in der Schlussphase des Krieges im Tiroler Ötztal ein Rüstungszentrum aufbauen. Dafür benötigte man qualifizierte Metallarbeiter. Der Mythos "Alpenfestung" und das Phantom "Ötztal" könnten also eine Erklärung für diesen am wenigsten dokumentierten Marsch abgeben.

Für eine Einschätzung der Streckenführung des Ottobrunner Marsches gibt es nur spärliche Informationen über tote Häftlinge und wenige Beobachtungen von Dorfeinwohnern. Wir haben deshalb in unserer Skizze für alle drei Märsche von Lagern östlich von München nur die Strecke über Grünwald, Deining, Egling nach Bad Tölz eingezeichnet. Wagner hat jedoch für den Ottobrunner Marsch eine zweite Strecke ins Auge gefasst – nicht nachweisbar, aber geographisch naheliegend.

Wer eine Regionalkarte mit ausführlicher Straßenführung betrachtet, erkennt, dass der direkte Weg von Ottobrunn nach Bad Tölz – oder Tegernsee - über Sauerlach und Holzkirchen führt. Auf dieser Strecke gibt es nur zwei Informationen über eine Häftlingsgruppe, die durch Brunnthal in Richtung Hofolding marschierte, und vier tote Häftlinge in dem Dorf Hartpenning, das auf dem Weg nach Tegernsee, aber auch nicht weit von Waakirchen entfernt liegt. Wagners Hinweise auf tote Häftlinge in den weiter westlich gelegenen Orten Dietramszell, Kirchbichl und Ellbach gehen buchstäblich in die falsche Richtung. Über den Gemeindegrund der Dörfer Dietramszell, Kirchbichl und Ellbach führte nach Auskunft der zuständigen Kommunalverwaltungen auch die Landstraße nach Bad Tölz, die Marschstrecke der Riemer Häftlinge also, deren weiteres Schicksal hinter Ellbach im Neuschnee verschwand, obwohl Bad Tölz nur ein paar Kilometer entfernt ist.

In Kirchbichl und Ellbach sprachen "Zeugen aus zweiter Hand" von "mehreren Tausend" oder von "2000 Häftlingen". Aus Ottobrunn kamen 337 Häftlinge, aus München-Giesing nur 539 Frauen, die auf halber Strecke – in Wolfratshausen - ihren Marsch beendeten. Bleiben nur die 1543 Häftlinge aus München-Riem, bei denen es sich laut Fotos und Zeitzeugen um "kräftige russische Männer" handelte. Wenn dieser am besten dokumentierte Marsch aus dem Münchner Osten am 30. April 1945 – zwei Tage vor der Ankunft der US-Truppen – den Ort Ellbach bei Bad Tölz erreichte, bleibt die offene und sehr naheliegende Frage: Wohin dann? Die Antwort darauf ist ebenfalls sehr naheliegend – zumindest geographisch: Einen halben Tagesmarsch von Ellbach bzw. Bad Tölz entfernt liegt das Tegernseer Tal.

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