Informationslücken bei Bahntransporten
aus Dachau (Emmering), Kaufering und Mühldorf

Die Quellenanalyse über die Bahntransporte hätten wir unmittelbar nach der Betrachtung "Todesmarsch von Dachau" anschließen können, weil vier von sechs Evakuierungen per Bahn vom KZ Dachau selbst ausgingen und nur zwei aus den Außenlagern Kaufering und Mühldorf. Aber drei Gründe sprachen für die Reihenfolge erst Märsche, dann Bahn:

  • Zwischen den Häftlingsmärschen aus den vier Lagern bzw. Lagerkomplexen bestanden Zusammenhänge oder Überschneidungen (Dachau, Kaufering, Allach, München-Ost), weshalb wir diese zuerst behandelten
  • Zwischen Häftlingsmärschen und Bahntransporten bestanden Zusammenhänge (Kaufering und Emmering, Emmering und Wolfratshausen)
  • Zwischen einzelnen Bahntransporten bestand ein Zusammenhang (Mühldorf und Dachau 2).

In der von uns gewählten Reihenfolge ist die Gesamtszenerie von Evakuierungsmärschen und Bahntransporten übersichtlicher und die Analyse leichter zu überblicken. Vor allem wollen wir für die am Ende gestellte Fragen "Welche Häftlinge wurden in Dachau verladen?" und "Wurden insbesondere Kauferinger Häftlinge in Emmering verladen?" Antworten finden, die die zeitlichen Umstände und den gesundheitliche Zustand der Häftlinge berücksichtigen.

1. Bahntransporte in den Hauptquellen

a. Welche Strecken führten nach Süden

Beide Hauptquellen, das Dokument der US-Armee und das niederländischen Evakuierungsschema NTC, nennen fünf Bahntransporte, vier Dachauer Transporte und einen Mühldorfer Transport, aber nicht den Kauferinger Transport.

Bahntransport   Dachau - Seefeld (Mittenwald)    2000  Häftlinge
Bahntransport   Dachau - Seeshaupt               3000  Häftlinge
Bahntransport   Dachau - Staltach                2600  Häftlinge
Bahntransport   Dachau - Wolfratshausen          2000  Häftlinge
Bahntransport   Mühldorf - Tutzing.              3600  Häftlinge

Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Informationen sei vorweg noch einmal festgehalten, dass wegen der Schäden durch US-Luftangriffe die Häftlinge aller vier "Dachauer Bahntransporte" im Bahnhof Emmering, an der Bahnlinie Fürstenfeldbruck-München gelegen, verladen wurden. Aus demselben Grund konnten alle Züge in Richtung Alpen nicht über die Normalstrecke von München-Pasing über Starnberg und Tutzing in Richtung Garmisch fahren. Sie fuhren in Richtung Alpen über die "Isartalbahn" von München-Süd über Wolfratshausen, Beuerberg nach Bichl und Kochel und von dort zurück in Richtung Norden nach Bernried/Tutzing. Von Tutzing aus war die Strecke nach Garmisch wieder frei (nur für den 1. Bahntransport nach Mittenwald).

Über Zahlen und Ziele der Bahntransporte aus dem KZ Dachau (bzw. Emmering) und dem Außenkommando Mühldorf liegen keine alternativen Quellen oder sonstige Hinweise vor, die es ermöglichten oder erforderten, die Angaben des amerikanischen und des niederländischen Dokuments in Zweifel zu ziehen.

b. Pauschale Defizite der Hauptquellen

Die Hauptquellen weisen - pauschal betrachtet - folgende Defizite und Lücken auf:

  • Die Hauptquellen enthalten keinerlei Angaben über die Zusammensetzung bzw. Herkunft der Häftlinge der einzelnen "Dachauer Transporte". Damit lassen sie auch die Frage unbeantwortet, ob bzw. welche Kauferinger Häftlinge nach Märschen bis Emmering dort auf die Bahn verladen wurden.
  • Die Hauptquellen, deren Informationen über den Lagerkomplex Kaufering sehr lückenhaft sind, erwähnen auch nicht den Kauferinger Bahntransport nach Emmering.

c. Vage Informationen in den Dachauer Tagesprotokollen

Aus den Angaben der täglichen Zugangs- und Abgangsprotokolle der Kommandantur des KZ Dachau findet man in Kenntnis bekannter Häftlingsbewegungen zwei Hinweise:

  • Im Bestandsbericht vom 26.4.45 heißt es "Auf Transport: n. Akdo-Ötztal (Juden) 1754". Hierbei handelt es sich möglicherweise um die 1759 jüdischen Häftlinge, die im Marschbefehl für den "Todesmarsch von Dachau" vom 26.4.45 als Bahntransport angekündigt sind.
  • Im Bestandsprotokoll vom 27.4.45 heißt es für den 26.4. unter "Abgänge": "Transport 5667". Die Bahntransporte nach Staltach (2600) und Wolfratshausen (2000) umfassten 4600 Häftlinge. Unter Einbeziehung des "Transports von 1759 Juden ins ´Kommando Ötztal`" (s.o.) würden sich die Zahlen für mögliche Bahntransporte am 26.4.45 auf 6349 Häftlinge summieren. Der Eintrag "Transport 5667" kann also nicht bekannten Häftlingsbewegungen zugeordnet werden.

d. Chronologische Reihenfolge

Wir behandeln nicht erst die vier Dachauer Bahntransporte und dann erst die Mühldorfer und Kauferinger Zugtransporte, weil eine chronologische Reihenfolge inhaltlich vorteilhaft ist. Sie erlaubt es, sichere und mögliche Zusammenhänge zwischen Dachauer Zügen einerseits und Mühldorfer und Kauferinger Zügen andererseits besser zu analysieren.

2. Bahntransport Dachau - Mittenwald: 23.-29.4.45

Die Hauptquelle gibt an, dass schon dieser erste Transport, der als "Kommando Ötztal" Tirol erreichen sollte, in Emmering verladen und die Isartalbahn-Strecke benützen musste. Es fehlen Angaben, warum der Häftlingstransport, nachdem er Seefeld i. Tirol erreicht hatte, von NS-Gauleiter von Tirol nach Mittenwald - also ins "Reich" - zurückgeschickt wurde.

Es gibt zwei Arten von Informationen, die das einfache Szenarium - von Dachau/Emmering mit der Bahn nach Seefeld und von dort zu Fuß zurück nach Mittenwald und dort Befreiung - komplizieren bzw. unglaubhaft differenzieren.

  • Jaakob Simon, ehemaliger Kauferinger Häftling, berichtete uns, dass er im März 1945 von Lager 4 als kranker "Muselmann" erst ins Krankenrevier des KZ-Dachau überstellt und dann: "Von dort irgendwo im April 1945 mit anderen 1000 Muselmaener mit der Bahn auf Transport. (Angeblich erster Transport von Dachau)." Dann der nicht glaubhafte Mittelteil von Gauting nach Mittenwald: "Nach 3 stundiger Fahrt Luftangriff - weiter Zufuss durch Gauting 10 Tage bis Mittenwald." Dann folgt ein Schluss der wieder weitgehend gesichert erscheint: "Nach Verstaerkung durch Soldaten aus der Jaegerkaserne werden die noch lebenden 158 vor einem Maschinengewehr gestellt. Nach entschiedenem Protest der weiblichen Begleiterinn des Offiziers laest er sie liegen und verschwindet. Die Soldaten setzen sich auch ab. Geschieht am 1 May 1945. Verliert Bewustsein. Aufgewacht in einem Lazaret in Garmisch zwischen verwundeten deutschen Soldaten. Vor Angst verlaest ohne sich zu melden und wird als gestorben registriert. Kommt in Sammelpunkt Alpenjaegerkaserne in Mittenwald. Vor dort nach D.P.Feldafing. Als Lungenkranker im Hospital Gauting. Nach Palaestina mit dem illegalen Schiff "Ecksodus"."

    Nicht nur unrealistisch, sondern falsch ist die Schilderung des Weges von Dachau nach Mittenwald aus fünf Gründen:

    1. Vor dem "offiziellen" Zug Dachau-Mittenwald gab es keinen Häftlingszug von Dachau bis Gauting.
    2. Die Hauptstrecke über Gauting war bombardiert.
    3. Nirgends in der Literatur gibt es einen Häftlingsmarsch Gauting-Mittenwald.
    4. Von Gauting bis Mittenwald würden auch geschwächte Häftlinge nicht 10 Tage marschieren. (Siehe die Märsche nach Waakirchen.)
    5. Simon spricht von "158 noch lebenden". In Mittenwald wurden 1900 Häftlinge befreit.
  • Alois Schwarzmüller, Studiendirektor in Garmisch-Partenkirchen, vertritt in einem Internet-Text Die Todesmärsche nach Garmisch-Partenkirchen, Mittenwald, Scharnitz, Seefeld 1945 die Meinung, die angeblich durch das Dachauer Archiv gestützt wird, aber in der Literatur nicht auftaucht:

    Am 29. 4.45 kam ein zweiter Bahntransport aus Dachau "in der Gegend von Mittenwald" an. Am 30. 4.45 marschierten 800 Häftlinge von Garmisch-Partenkirchen nach Mittenwald.

Am 28.4. kam der "erste" Bahntransport aus Dachau in Mittenwald und Seefeld an. Einen Tag danach soll "ein zweiter" Dachauer Zug in Mittenwald angekommen sein. Wenn das nicht ein und derselbe ist! Woher und auf welchem Weg kamen am 30.4.45 800 Häftlinge zu Fuß aus Garmisch nach Mittenwald? In den Tagen zuvor war die Strecke westlich des Starnberger Sees nicht mehr offen, wie wir bei der Betrachtung des "Todesmarsches von Dachau" mitbekommen haben. Die Dachauer Schreibstube vermerkt keinen Marsch von Dachau nach Garmisch. Handelte es sich etwa um den Rückmarsch der befreiten Häftlinge aus Garmisch, weil "die Jaegerkaserne von Mittenwald" von den US-Truppen zur "Sammelstelle" erklärt worden war (Jaakob Schul)? Wir werden diese Aussagen im Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau nachprüfen. Wir sind skeptisch.

3. Bahntransport Mühldorf - Tutzing: 25.-30.4.45

Vorweg sei festgestellt, dass in den vier Lagern des Außenkommandos Mühldorf am 14.4.1945 von der Organisation Todt 4600 Häftlinge gezählt wurden, am 26.4. von der Lagerschreibstube Dachau 5224 Häftlinge. Sie mussten ebenfalls - wie die Häftlinge des Kauferinger Kommando - für das Bunkerprojekt "Ringeltaube" arbeiten. Um die Richtigkeit der Zahlen der Hauptquellen einschätzen zu können, gehen wir von der Prämisse aus, dass die Bunkerarbeiter der Mühldorfer Lager ähnlich wie die der Kauferinger Lager möglichst vollständig für einen neuen Arbeitseinsatz im Süden evakuiert werden sollten.

a. Hauptquelle mit falschen Zahlen

Sowohl die amerikanische, als auch die niederländische Hauptquelle geben für den Mühldorfer Bahntransport nur eine Häftlingszahl von 1500 an. Mehrere SS-Angehörige, die den Mühldorfer Zug bewachten, nannten im Dachau-Prozess etwa 3600 Häftlinge. Der Rest sei wegen Krankheit zurückgeblieben, woraus ebenfalls hervorgeht, dass für die abtransportierten Häftlinge ein neuer Arbeitseinsatz geplant war. Diese wurden am Abend des 25.4.45 am Mühldorfer Bahnhof in einen Güterzug in Richtung Alpen verladen worden.

Falsch ist auch der Hinweis der amerikanischen Quelle, der Transport wäre über die Stadt Wasserburg gelaufen, denn sie liegt nicht an der Bahnlinie nach München. Und falsch ist vor allem die Behauptung der niederländischen Quelle, in diesem Mühldorfer Zug mit 1500 Häftlingen: "An diesem Evakuierungszug nahmen Gefangene aus Dachau, Flossenbürg, Gross-Rosen und Natzweiler teil."

  • Wie und warum sollten Häftlinge aus Dachau (!), Nordbayern, Schlesien und Schwaben nach Ostbayern transportiert worden sein und dann wieder zurück in Richtung Dachau?
  • Wenn ein Teil der angeblich 1500 Häftlinge, die am 25.4.45 vom Mühldorfer Bahnhof in Richtung München und Alpen abtransportiert worden seien, aus den anderen vier genannten KZ-Lagern stammten, dann wäre ein noch größerer Teil der über 5000 Häftlinge des Mühldorfer Lagerkomplexes zurückgeblieben, was erst recht nicht den späteren Quellenangaben entspricht.

b. Luftangriffe und Teilung des Zuges

Die Zeugenaussagen von SS-Angehörigen im Dachau-Prozess erklären auch die lange Dauer des Mühldorfer Bahntransportes: Er wurde zuerst zwischen Mühldorf und Ampfing und dann in Poing östlich von München von amerikanischen Tieffliegern beschossen und bombardiert. Nach einer Teilung des Zuges vermutlich in München (s.u.) fuhr der erste Teil des Zuges über die Isartalbahn weiter nach Bichl und auf der Normalstrecke Kochel-Tutzing zurück nach Seeshaupt, wo er am 28.4. ankam und am 29.4. ein drittes Mal von Tieffliegern angegriffen wurde. Schließlich erreichte dieser Teilzug am 29. und 30.4. bei Bernried und Tutzing die Hauptlinie nach Garmisch. Nach dieser schrecklichen Odyssee wurden die Häftlinge des ersten Mühldorfer Teilzugs in Tutzing von US-Truppen befreit. 54 tote Häftlinge wurden dort aus den zerschossenen Waggons ausgeladen - Opfer der Nazi Gewalt und der Angriffe durch ihre Befreier.

4. Bahntransport Dachau - Seeshaupt: 25.-30.4.45

Beide Hauptquellen berichten, dass am 25.4.45. 3000 Dachauer Häftlinge in Emmering zu einem zweiten Transport in Richtung Süden verladen wurden. Das US-Dokument nennt auch für diesen Evakuierungszug die Strecke über die Isartalbahn bis Bichl und sogar weiter bis Kochel (Endstation Isartalbahn!) und dann auf der Normalstrecke ebenfalls bis Seeshaupt, wo die Häftlinge am 30.4. - wie die Häftlinge des Tutzinger Zuges - von US-Truppen befreit wurden.

Auf halbem Weg an der Isartal-Strecke zwischen München und Kochel liegt das schon öfters erwähnte Dorf Beuerberg. Dort traf der zweite Dachauer Zug auf den dort stehenden zweiten Mühldorfer Teilzug, weil die Häftlinge beider Züge dort verpflegt werden sollten. Über das folgende Szenarium informierte uns der Beuerberger Bürger Andreas Grünwald, der Augenzeuge der Verpflegungsaktion und des folgenden Geschehens war. Die Züge wurden von amerikanischen Tieffliegern angegriffen und eine Lokomotive zerstört. Daraufhin wurden beide Züge, der Mühldorfer und der Dachauer, zusammengekoppelt. Grünwald berichtete uns, dass die beiden verbundenen Züge mit den Toten in den Waggons weiterfuhren, wie schon geschildert nach Bichl und Kochel und dann zurück nach Seeshaupt, dem Ort der Befreiung.

Wagner erwähnt in seiner Studie den Luftangriff in Beuerberg "auf zwei mit Häftlingen beladene Züge", stellt dann aber die Frage, "ob beide Häftlingstransporte aus dem Konzentrationslager Mühldorf stammten". Es gab keinen dritten Mühldorfer Teilzug. Die naheliegende Überlegung, dass es sich in Beuerberg um den zweiten Mühldorfer Teilzug und den zweiten Dachauer Transport handelte, stellt er nicht an.

5. Bahntransport Dachau - Staltach: 26.-30.4.45

Beide Hauptquellen nennen einen dritten Dachauer Bahntransport, durch den am 26.4.45 2600 Häftlinge in Richtung Süden verladen wurden. Er fuhr ebenfalls über die Isartalbahnstrecke bis Bichl und erreichte bei der Rückfahrt auf der Normalstrecke am 30.4. - kurz vor Seeshaupt - noch die Station Staltach. In dem Nachbarort Iffeldorf wurden die Häftlinge befreit. Kein Zusatz durch andere Quellen, bis auf die Pfarrerberichte, die in den Dörfern nahe dem Südufer des Starnberger Sees über viele "plündernde KZler" berichten. Die 5600 in Seeshaupt und Iffeldorf befreiten völlig ausgehungerten Häftlinge brauchten Nahrung.

6. Bahntransport Dachau - Wolfratshausen: 27.-28.4.45

Obwohl der nachfolgende Bahntransport aus Kaufering einen Tag vor dem Dachauer Zug nach Wolfratshausen abfuhr, ziehen wir Letzteren nach vorne. Denn uns interessiert bei der Analyse der Bahntransporte die Frage, ob auch Kauferinger Häftlinge in Emmering nach Süden verladen wurden.

Beide Hauptquellen erwähnen den 4. Dachauer Bahntransport, durch den am 27.4.45 2000 Häftlinge von Emmering nach Wolfratshausen gebracht wurden, wo sie am 28.4. ankamen. Beide berichten auch, dass diese sich dem am 26.4.45 in Dachau abmarschierten "Konvoi" von rund 7000 Häftlingen bei deren Weitermarsch anschließen mussten. Es handelte sich also um marschfähige Häftlinge. Warum marschierten sie dann nicht schon von Dachau aus mit dem "Konvoi"? Waren sie etwa von Kaufering nach Emmering gekommen?

7. Was wurde aus dem Dachauer "Bahntransport (Juden) - 1759" vom 26.4.45

Auf dem Marschbefehl des Dachauer Schutzhaftlagerführers vom 26.4.1945, mit dem für 6887 Häftlinge der "Todesmarsch von Dachau" angeordnet wurde, heißt es auch "1. Bahntransport (Juden) - 1759". Dieser Befehl ähnelt sehr der Bestandsmeldung vom Morgen des 26.4.45, in der es heißt: "Auf Transport n. Akdo-Ötztal (Juden) 1754". Wenn es sich bei diesen 1754 oder 1759 "Juden" um arbeitsfähige Häftlinge handelte, können wir annehmen, dass sie in Emmering auf einen der beiden "Dachauer Züge" verladen wurden, auf denen am 26.4. 2600 Häftlinge nach Staltach und am 27.4. 2000 Häftlinge nach Wolfratshausen transportiert wurden. Dieselbe Überlegung kann man selbstverständlich für Kauferinger Häftlinge anführen (s. Punkt 9).

8. Bahntransport Kaufering - Dachau (Emmering) 26.-28.4.45

Die amerikanische und die niederländische Hauptquelle lassen den Kauferinger Bahntransport, mit dem am 26.4.45 rund 3400 Häftlinge von Lager 4 und Lager 1 nach Emmering gebracht wurden, unerwähnt.

Der einzige Kauferinger Bahntransport ist durch viele Häftlingsaussagen bezeugt. Wir erhielten authentische Informationen durch den aus Litauen stammenden Häftling Mosche Eidelmann, der nach seinem Aufenthalt in Lager 1 ins Krankenlager 4 kam. Am 25.4.45 schleppte er sich auf Befehl der SS-Wächter zu dem nur wenige hundert Meter entfernten Bahngleis. Etwa 2400 Häftlinge von Lager 4, die zwar gehfähig, aber nicht marschfähig waren, bestiegen die dort wartenden Waggons. Sie fuhren zunächst nach Kaufering oder Landsberg, um 1000 Häftlinge aus Lager 1 mitzunehmen (unser Informant Uri Chanoch war dabei). Nach mehreren Luftangriffen fuhr dieser Zug am Abend des 26.4. in Richtung Dachau. Über den Tieffliegerangriff bei Schwabhausen haben wir schon berichtet. Am 28.4. kam der Kauferinger Zug in Emmering an. Von diesem Kauferinge Bahntransport, der mit rund 3400 Häftlingen abgefahren war, erreichten am 28.5. laut Bestandsbericht der Dachauer Kommandantur vom 29.4.45 nur 1769 überlebende Häftlinge das KZ Dachau, wo sie - wie Mosche Eidelmann - befreit wurden. Uri Chanoch war in Schwabhausen geflohen.

9. Welche Häftlinge wurden in Emmering verladen - auch Häftlinge aus Kaufering?

a. Vorfrage: Warum überhaupt Häftlingstransporte per Bahn

In dem Anfangskapitel "Evakuierung oder Vernichtung" (Hauptkapitel "Todesmärsche") behandelten wir ausführlich die Frage nach der Politik der Nazi-Führung in den letzten Kriegswochen bezüglich der jüdischen Häftlinge. Die Befehlte schwankten im zeitlichen Ablauf zwischen Vernichtung durch Luftwaffe oder Vergiftung bis zur "Evakuierung" der arbeitsfähigen Häftlinge in Richtung Alpen unter den Stichworten "Alpenfestung" und "Kommando Ötztal. Wir vertraten auf Grund der Fakten die Meinung, dass die Politik, die in den allerletzten Tagen praktisch durchgeführt wurde, auf die Verschubung der arbeitsfähigen Häftlinge in Richtung Alpen gerichtet war. Wenn die Nazi-Führung die möglichst schnelle Liquidierung beabsichtigt hätte, wären die Häftlinge vor dem jeweiligen Abmarsch nicht verproviantiert und unterwegs verpflegt worden. Für die Fortsetzung des Krieges in der "Alpenfestung" benötigte die Nazi-Führung ein Heer von Arbeitssklaven.

Als zweiten Hinweis auf die Absichten der Nazi-Führung mit den arbeitsfähigen KZ-Häftlingen werten wir die Wahlmöglichkeit in den Konzentrationslagern von Dachau, Allach und Kaufering, zu marschieren, die Bahn zu benützen oder zu bleiben (z.B. KZ Allach). Im KZ Dachau mussten "nur" 7000 Häftlinge nach Süden marschieren, während rund 25.000 kranke und geschwächte Häftlinge zurückbleiben durften, ohne einem irrsinnigen finalen Massenmord zum Opfer zu fallen.

Wir unterstellen also für die folgende Analyse, dass die per Fußmarsch oder per Bahn evakuierten Häftlinge der Lager Dachau, Allach, Kaufering, Mühldorf und dem Münchner Osten - mit Ausnahme des Kauferinger Krankentransports - primär als Arbeitskräfte in Richtung "Ötztal" gebracht werden sollten.

Für die vier Dachauer Transporte könnte noch ein zweites Motiv infrage gekommen sein. Das KZ Dachau war gegen Kriegsende durch Häftlingstransporte aus anderen Konzentrationslagern (Auschwitz, Buchenwald, Flossenbürg, Groß-Rosen, Natzweiler) so überfüllt, dass die Lagerführung Tausende von Häftlingen abschieben wollte. Der letzte Häftlingszug aus Buchenwald und Flossenbürg wurde, wie schon erwähnt, gar nicht mehr geöffnet. Wahrscheinlich unterschied die Lagerleitung bei diesen Entscheidungen zwischen schwachen und arbeitsfähigen Häftlingen. Aber wohin sollten sie abgeschoben werden?

b. Transport arbeitsfähiger Häftlinge

Nachdem die Hauptquellen keine Informationen über die Struktur der in Emmering verladenen vier Dachauer Häftlingsgruppen lieferten, ziehen wir aus den Zielen dieser Bahntransporte unsere Schlussfolgerungen. Im Bestandsbericht der Dachauer Lagerkommandantur vom 26.4.45 heißt es: "Auf Transport: n. Akdo -Ötztal (Juden) 1754". Wer nach Tirol geschickt wurde, sollte dort sicher arbeiten und nicht dahinsiechen. Dann musste es unmittelbar vor dem Verlust der Kauferinger und Mühldorfer Rüstungsbaustellen im Interesse der Nazi-Führung sein, einen möglichst großen Teil dieses Arbeitskräfte-Reservoirs zu behalten, d.h. zu evakuieren. Angesichts der sich schnell nähernden Front war es zeitlich günstiger, möglichst viele Häftlinge so schnell wie möglich zu evakuieren.

c. Emmering - genau zwischen Kaufering und Dachau

Die Bahnstation Emmering liegt wenige Kilometer östlich von Fürstenfeldbruck an der Bahnlinie und an der Straßenverbindung zwischen Landsberg/Kaufering und München/Dachau. Dann ist es rein logistisch und organisatorisch sehr naheliegend, dass Kauferinger Häftlinge, die über Dachau und Allach in Richtung Süden weitermarschieren sollten, schon in Emmering auf Züge nach Süden verladen wurden.

Für die Prüfung dieser Frage ist es zweckmäßig, die Abfahrtszeiten der Emmeringer Bahntransporte und die wahrscheinlichen Ankunftszeiten Kauferinger Marschgruppen zu vergleichen

Die beiden Hauptquellen, die nur zwei Märsche von Kaufering in Richtung Dachau auflisteten, nennen für den ersten Marsch von 1500 Häftlingen am 24.4.45 als Ziel Emmering. Wenn dies wirklich so geschah, dann kommen die "Dachauer Bahntransporte" vom 25.4. (Seeshaupt) und vom 26.5. (Staltach) infrage.

Die Frage bleibt: Wurden neben diesem Häftlingsmarsch weitere Häftlingsgruppen, die von Kaufering mit den Zielen Dachau oder Allach nach Emmering marschierten, dort auf die Bahn verladen?

d. Kauferinger Häftlinge in Emmering auf Bahn verladen?

Um diese Frage zu prüfen, gehen wir noch einmal von Gesamtzahlen, Märschen und Zügen aus, die wir schon berücksichtigt haben und nennen mögliche zusätzliche Märsche:

• Gesamtzahl Kauferinger Häftlinge                            12000
• Kauferinger Marsch vom 24.4.45 mit Verladung in Emmering     1500
• "Türkheimer" Marsch vom 23./24.5.                            1200
• Bahntransport aus Lager 4 und 1                              3400
• Rest                                                         5900

Die restlichen 5900 Häftlinge marschierten in Richtung Dachau und Allach. Nach unserer Einschätzung möglicher Evakuierungsmärsche von Kaufering unter Punkt III/6/d kommen neben den zwei genannten Märschen noch folgende Kauferinger Märsche für eine Umladung in Emmering infrage:

  • 3. Marsch von 2124 Häftlingen aus Lager 7 und möglicherweise 750 Häftlingen aus Lager 3 nach Allach.
  • 4. Marsch von 559 Häftlingen aus dem Uttinger Lager 5 nach Dachau.
  • 5. Marsch von 2451 Häftlingen aus Lager 1 und anderen Lagern nach Dachau.

Wie wir schon ausführlich im Kapitel III/5 dargestellt haben, liegen uns viele Zeugenaussagen vor, dass die Häftlinge aus Lager 5 direkt von Utting nach Dachau und von dort weiter nach Waakirchen marschierten und dass die Häftlinge von Lager 11 nach Allach und zum Teil weiter bis Geretsried marschierten.

Es muss, um auf die gesamte Ausgangszahl von 12 000 Kauferinger Häftlingen zu kommen, noch einen finalen Marsch von rund 2500 Häftlingen aus Lager 1 und möglicherweise auch aus den Lagern 3, 4 und 7 gegeben haben. Davon gehen wir aus. Denn wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass viele Zeugen aus Lager 1, von denen wir Informationen erhalten haben, erst am Abend des 26.4. in Dachau angekommen sind, dass sie also nicht zu den Kauferinger Märschen vom 24.5 nach Emmering und nach München-Pasing gehörten, sondern - auch zeitlich betrachtet - zum letzten Marsch.

Wenn dieser fünfte und letzte Kauferinger Häftlingsmarsch Landsberg am 25.4.45 verließ und am 26.4. Emmering erreichte, dann ist es rein zeitlich möglich, dass ein Teil dieser Häftlingsgruppe auf die Bahntransporte vom 26.4. (Staltach) oder vom 27.4. (Wolfratshausen) verladen wurde. Nach den schon genannten Zeugenaussagen ist es aber auf jeden Fall sicher, dass zumindest ein Teil dieses Evakuierungsmarsches bis zum KZ Dachau weitermarschierte, dort am Abend des 26.4.45 ankam und am Morgen des 27.4. nach Waakirchen weitermarschierte.

Was uns bei der Klärung des Schicksals der letzten 2500 Kauferinger Häftlinge und bei der Klärung der Frage nach der Bahnverladung Kauferinger Häftlinge in Emmering noch skeptisch bleiben lässt, ist die Tatsache, dass wir für beide wahrscheinliche Bahnverladungen in Emmering - die von den Hauptquellen genannte und die von uns aus den Fakten herausgearbeitete - über keinerlei Zeugenaussagen verfügen. Dieser Mangel an Zeugnissen darf uns aber nicht veranlassen, das Schicksal von rund 2500 Häftlingen aus "Mangel an Beweisen" zu übergehen und zu vergessen.

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