Bilanz der Pfarrerberichte

Vorteile: Inhaltliche und zeitliche Authentizität

Unsere Analyse der vom Kardinal der Erzdiözese München und Freising im Juni 1945 angeforderten Berichte aller Pfarreien über Kriegsfolgen, Einmarsch der US-Truppen und Plünderungen erlaubt vorweg das generelle Urteil, dass diese "Pfarrerberichte" aus zwei Gründen eine wichtige Quelle von Informationen über die Todesmärsche und Todeszüge vom KZ Dachau und seinen Außenlagern darstellen: Erstens besitzen sie eine hohe zeitliche Authentizität, weil sie unmittelbar nach Kriegsende in Auftrag gegeben und fast vollständig bis Ende Sommer 1945 verfasst wurden. Zweitens kann man die Ortspfarrer trotz zahlreicher "Aussetzer" als zuverlässige Informationsquelle werten, da sie aufgrund ihres humanitären Auftrags ein Interesse an den Häftlingsmärschen haben mussten und für viele Gläubige eine wichtige Anlaufstelle waren, dass sie also über ihre eigenen Beobachtungen hinaus breiten Zugang zu Informationen hatten. Drittens waren die "Pfarrerberichte" eine flächendeckende Informationsquelle, da mit einer einzigen Ausnahme aus allen Pfarreien an den Todesstrecken berichtet wurde. Ob alle Pfarrer, die Todesmärsche beobachten oder beobachten hätten können, diesen ihre seelsorgerische Aufmerksamkeit widmeten und sie für berichtenswert hielten: Dies ist eine andere Frage, die in vielen Fällen negativ beantwortet werden muss.

Moralische Bewertung?

Wir hielten es in dieser Untersuchung nicht für notwendig, die einzelnen Pfarrerberichte kritisch – etwa nach moralischen oder politischen Kriterien – zu werten. Uns kam es nur auf Informationen über historische Tatsachen an. Eine informative, wenn nicht sogar kritische Bewertung der Berichterstattung der Pfarrer zum Thema "Todesmarsch von Dachau" haben Professor Walter Ziegler und Thomas Forstner in ausführlichen einführenden Aufsätzen im Rahmen des Gesamtwerkes vorgelegt.

Welche zusätzlichen Informationen liefern die Pfarrerberichte?

Für unsere Analyse der Todesmärsche und Todeszüge aus dem Lagern des KZ-Komplexes Dachau erwiesen sich insbesondere folgende Informationen als sehr bedeutsam, weil sie umstrittene Quellenangaben über Orte, Zahlen und Zeiten bestätigen oder glaubwürdig und überzeugend widerlegen.

  1. Bestätigung unserer zeitlichen Darstellung
    Die Pfarrerberichte bestätigen die von uns vorgenommene Korrektur mehrerer wichtiger Zeitangaben der amerikanischen und niederländischen Hauptquellen. Dies betrifft insbesondere die Daten über das Lager in Achmühle-Bolzwang vom 28. bis zum 30. April, die bei den genannten Quellen zu einer Verfälschung des nachfolgenden Zeitplans führt, sowie über die Befreiung in Waakirchen und die sich daraus ergebende Unmöglichkeit der Angaben über das Tegernseer Tal.
  2. Aufklärung über die Vorgänge zwischen Achmühle-Bolzwang und Bad Tölz
    Der Bericht des Pfarrers von Beuerberg erklärt die Abtrennung der Masse der russischen KZ-Häftlinge kurz nach dem Überschreiten der Loisach bei Eurasburg sowie den in anderen Quellen nicht nachvollziehbaren Rückmarsch dieser 5000 Häftlinge über die Loisach nach Beuerberg und ihre dortige Befreiung noch am selben Abend (30.4.1945).
  3. Ende des "Todesmarsches von Dachau" in Waakirchen
    Der Bericht des Pfarrers von Waakirchen bestätigt zunächst die Erinnerungen vieler "reichsdeutscher" und jüdischlitauischer Häftlinge, dass sie am Abend des 1. Mai im Wald zwischen Reichersbeuern und Waakirchen ein viertes Nachtlager bezogen, dass am nächsten Vormittag (2. Mai) nach dem Verschwinden der SS-Wächter nach Waakirchen gingen und dort auf die Befreiung durch die US-Armee warteten. Hier stimmt sogar die Uhrzeit überein (15 Uhr). Zwei entscheidende Korrekturen der Hauptquellen enthält der Waakirchener Pfarrerbericht: In Waakirchen wurden nicht 1000, sondern 2700 Häftlinge befreit, und vor allem: der Pfarrer berichtet nicht über einen Weitermarsch von 3000 Häftlingen über Waakirchen hinaus in Richtung Tegernsee – weder vor dem 2. Mai, noch am 2. Mai und schon gar nicht nach dem 2. Mai, dem Tag der Befreiung in Waakirchen.
  4. Die Wirklichkeit im Tegernseer Tal
    Die Berichte der Pfarrer von Gmund, Tegernsee, Egern, Kreuth und Bad Wiessee ergeben ein lückenloses Bild, das die entsprechenden Angaben der Hauptquellen aus vielen Gründen als unmöglich erscheinen lässt. Diese erwähnen einen Weitermarsch von 3000 Häftlingen über Waakirchen hinaus durch die Orte Gmund, Tegernsee und Rottach im Tegernseer Tal bis Kreuth, die Befreiung von 2000 Häftlingen in Rottach (zu einem Zeitpunkt, als der Ort noch in Händen der Waffen-SS war) und einen Rückmarsch von 1000 Häftlingen durch Bad Wiessee. Keiner der Pfarrer der fünf Orte bestätigt diese Angaben, vor allem nicht der Gmunder und der Tegernseer Seelsorger. Der Pfarrer von Egern (Rottach) erwähnt 300 Häftlinge, die dort seit mehreren Tagen lagerten und nicht zum Achensee weitermarschieren konnten, und der Pfarrer von Bad Wiessee spricht von 140 westeuropäischen Häftlingen, die dort ebenfalls schon seit mehreren Tagen festgehalten wurden. Der Bericht des Zeitzeugen David Grünwald, der in Rottach befreit wurde, nennt das Russenlager von München-Riem als seinen Ausgangsort.
  5. Berichte über die Märsche aus dem Münchner Osten
    Über die Evakuierungsmärsche von rund 2500 Häftlingen aus Lagern im Osten Münchens (Mü-Riem, Mü-Giesing, Ottobrunn), die in der einschlägigen Literatur nur in der ausführlichen Darstellung von Andreas Wagner datengestützt und glaubhaft Erwähnung finden, berichten die Pfarrer von Ottobrunn, Egling, Hechenberg und Ellbach, mögliche Hinweise geben die Pfarrer von Dietramszell, Hartpenning und Sachsenkam. Andere Informationen, vor allem von Zeitzeugen, bestätigen unsere Mutmaßung, dass es sich bei den wenigen Hundert Häftlingen im Tegernseer Tal um Reste der Märsche aus Lagern im Münchner Osten (Riem, Ottobrunn) handeln muss. Das Rätsel von KZ-Häftlingen im TegernseerTal kann jedoch auch nicht von den Pfarrerberichten gelüftet werden.
  6. Authentizität und Nächstenliebe
    Selbstverständlich kommt vielen Pfarrerberichten über unser historisches Informationsbedürfnis hinaus das moralische Verdienst zu, dass sie authentisch, wirklichkeitsnah und vor allem mit bewusster und praktizierter Nächstenliebe sich um das schreckliche Schicksal der KZ-Häftlinge der Todesmärsche und Todeszüge kümmerten, dass sie über das grausame Verhalten der SS-Wachmannschaften so ehrlich berichteten wie auch die Häftlinge die Gewalttätigkeit der Schergen ihres Leidenswegs beschreiben, und dass sie uns Kunde geben von den spontanen Hilfsaktionen vieler Menschen aus ihren Pfarrgemeinden.